12 Uhr 34, Hausbesuch in Kreuzberg

E in düsterer Treppenaufgang im zweiten Hinterhof, Seitenflügel. Ich steige zum dritten Stock hoch. Das Linoleum auf den Treppenstufen ist ganz und gar abgetreten. Es stammt offenbar aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Das ganze Haus befindet sich in einem katastrophalen Zustand. Im dritten Stock werde ich schon erwartet. Es ist der Pflegedienst mit dem Wohnungsschlüssel. „Doktor, der Patient ist sehr eigen, er hat Kreuzschmerzen, aber der redet nicht viel, er will eine Spritze und ansonsten soll alles bleiben wie es ist. Man darf keinen Finger rühren. – Soll das heißen, man darf nichts anfassen? – Sehen Sie selber Doktor. Lassen Sie sich überraschen.“

Wie ich den Raum betrete, verschlägt es mir die Sprache. Auf seinem Bett sitzt der Apostel Paulus. So jedenfalls stelle ich ihn mir vor. Der Alte hat weißgraues, wallendes Haar und einen mächtigen gekräuselten Bart, die Stirne ist hochgewölbt, der Blick streng und doch in sich ruhend. Er sitzt auf seinem Bett in einer schmalen Kammer. Von einem hohen Fenster strahlt Sonnenlicht in den Raum. Die Lichtstrahlen modellieren den Apostel wie eine antike Plastik. Unzählige Sonnenstäubchen tanzen um ihn herum. Die Wärme staut sich in der Kammer. Eine dicke, blauschwarze Fliege sucht brummend den Weg ins Freie. Der Alte ist nur mit einem ärmellosen langen Nachthemd bekleidet. Es muss einmal weiß gewesen sein. Irgendwann. Jetzt jedenfalls ist es anthrazitgrau, seit Zeiten nicht gewaschen, wenn überhaupt je. Dunkler noch, wie von Ruß überzogen sind Bett und Bettdecke. Der Rest des Zimmers gleicht einer Rumpelkammer. Abgestelltes Mobiliar ist übereinander getürmt und wie alles andere auch, fingerhoch mit Staub bedeckt. Es ist kaum zu glauben. Wann wurde hier zum letzten Mal Ordnung geschaffen? Gefegt, gewischt? In dieser Kammer gibt es keinen Fernseher, kein Radio, keine Zeitschriften. Während ich die Spritze vorbereite, fällt mir auf, dass der Alte um einen Teller mit Essensresten eine staubfreie Oase geschaffen hat, indem er die grauen Flusen zu einem kleinen Wall aufhäufelte. Dort liegen ein kräftiges Klappmesser mit speckigem Holzgriff, ein Blechlöffel, eine Blechgabel, ein alter Hammer, eine Beißzange und eine Blechbüchse mit langen Holznägeln. Den Alten scheint all dies nicht zu stören. Die Staubwüste ist sein zuhause. Messer, Löffel, Gabel und ein bisschen Handwerkszeug besitzt er, das genügt ihm. Welch befremdlicher Lebensentwurf. Doch was für ein Charakterkopf, welch ernster Blick, welch biblische Erscheinung. Ein Berliner Original. Voila!

Der Alte mustert mich, wie ich mich umschaue. Er scheint meine Gedanken zu lesen. „Ich brauche nichts. Geben Sie mir eine Spritze, Doktor.“ Er sitzt auf seinem Bett mit aufgerichtetem Kreuz. Er hat Schmerzen, aber er zeigt es nicht. Ich gebe ihm die Schmerz lösende Injektion. Er muckt nicht auf. Er schweigt. Es ist ein intensives Schweigen. Er könnte erzählen, wozu er Hammer, Zange und Nägel benötigt. Aber er tut es nicht. Er hält sich bedeckt. Ich habe Lust mehr von ihm zu erfahren. Will wissen, warum er so und nicht anders leben möchte. Ich spüre, er wird mir nicht antworten, und so unterlasse ich die Frage und gehe, mit ungestillter Neugier.

Es ist 12 Uhr 46.

Wie kam es zu dieser Unordnung? Diese Frage beschäftigt mich. War es ein schleichender Prozess, eine Folge nachlassender Willenskraft im Alter? Aber warum dann das Verbot für andere Personen Ordnung zu schaffen, das Zimmer aufzuräumen und vom Staub zu befreien? Das Eine passt nicht zum Anderen. Es ergibt keinen Sinn. Nein, ich stelle es mir so vor: Eines Tages hatte der Alte genug vom ewigen Aufräumen, vom Kampf mit Schmutz und Staub, nutzlosen Anstrengungen, wie es ihm schien, da doch jede mit Mühe hergestellte Ordnung, sich unausweichlich in neue Unordnung verkehrt.

An diesem Tag, also hat er beschlossen, der Ordnung zu entsagen. Und das für immer! Gleichsam ein mönchisches Gelübde. Seine Kammer wurde ihm zur Klause. Die Unordnung sein Heiligtum. In ihr hat er seinen Frieden gefunden. Er lebt wie ein Asket, ein staubiger Asket, spartanisch zwar, doch er ist es zufrieden. Das Essen wird ihm gebracht. Besteck besitzt er.

Aber wie steht es um Hammer, Nägel und Zange? Zu was werden sie noch benötigt? Will er sein Betttuch festnageln, damit niemand es waschen kann? Oder sind es Utensilien eines früheren Handwerkerlebens? Andenken an eine ferne Zeit? Der Alte wird es nicht verraten, und so bleibt alles ungewiss.

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