12 Uhr 9, Leichenschau in Mariendorf

In Deutschland begehen im Jahr ca. 11.000 Personen ­Selbstmord. Zwei Drittel davon sind Männer, ein Drittel ­Frauen.

»Was für ein Geschlecht hat die tote Person?“, frage ich die Polizisten, die vor dem Anwesen, einem Gartengrundstück mit schmuckem Einfamilienhaus, Wache halten. „Es handelt sich um eine männliche Person, 38 Jahre alt, den Besitzer des Grundstückes. – Gibt es Angehörige, mit denen ich sprechen kann? –Nein. – Einen Abschiedsbrief? – Nein, auch nicht. – Ist die Türe offen? – Sie ist verschlossen, aber Sie brauchen nicht hinein zu gehen, der Tote hängt hinterm Haus.“ Wie sich das anhört?! Hängt hinter dem Haus, als ob einer sagt: Hinter dem Haus hängt die Wäsche. Der Tote wird zur Sache. Ist nur noch ein Auftrag, der abgearbeitet werden muss. Tot oder nicht tot, er bleibt doch ein Mensch. Was muss er durchgemacht haben, um sich selber ein solch unwürdiges Ende zu bereiten?

Ich gehe durch den Garten. Er sieht so friedlich aus. Die Pfingstrosen wollen eben aufbrechen, die Tulpen stehen in voller Blüte, sie strotzen vor Farbe und Kraft. Gartenzwerge haben sich auf dem Rasen versammelt. Ein Bächlein fließt durch den Rasen, ein Mühlrad dreht sich. Der kleine Gartenteich ist mit weißen Steinen umsäumt, dazwischen Vergissmeinnicht und Akelei. Welche Mühe wurde hier nicht aufgewandt. Welche Freude am Gestalten des eigenen Besitzes spiegelt das alles wieder. Aus! Vorbei! Da hängt er. Am eisernen Schmiedegitter, das den Zugang zur steilen Kellertreppe sichert. Den Kopf zur Seite abgeknickt, das Gesicht blaurot, gedunsen. Die Augen glänzend. Die Zunge zwischen den Zähnen herausgewürgt.

Ich gehe die Kellertreppe hinunter, nähere mich dem Toten bis auf Augenhöhe. Kaum, dass ich ihn berühre, schwingt er hin und her, wie ein Uhrpendel. Ja… er ist nur noch ein Ding. Fragen drängen sich auf. Warum hat er sich umgebracht? Warum diese Art der Selbsttötung? Hatte er Schulden, Depressionen, deren er nicht mehr Herr wurde? Ist er in einer Beziehung gescheitert? Die Hausbegehung durch die Polizei verlief negativ, es gibt keine Hinweise auf Alkoholismus oder schwere Krankheit. Ich werde es nie wissen.

Selbstmord durch Erhängen: die häufigste Todesart bei Suizid. Männer bevorzugen sie. Frauen schlitzen sich eher die Pulsadern auf oder nehmen Tabletten. Dabei hatte der Tote sein Ende wohl bedacht. Er wollte nicht, dass man ihn in seinem Haus auffindet, vielleicht erst nach Wochen. Er wollte nicht, dass Leichengeruch durch seine Behausung zieht, dass Leichenbrühe seine Teppiche verdirbt. Nein, sein Haus, das wollte er nicht bestrafen, sich selber schon. Mit finsterem Kalkül hat er den Kellerzugang gewählt. Erhängen durch den Strang, über Jahrhunderte das gängigste Urteil bei Kapitalverbrechen. Aber sich selber richten mit dem Strick, sich hineinstürzen in ein düsteres Kellerloch. Die eigene Gruft! Warum musste er das tun?

Ich breche die Leichenschau ab. Die Situation vor Ort ist ungünstig. Ich müsste, vom Gesetz vorgeschrieben, die Leiche gänzlich entkleidet nach Einwirkungen von Gewalt absuchen, sowie Mund und After inspizieren. Es ist auch zweifelsfrei festzustellen, ob der Erhängte nicht schon vorher tot war und der Tod durch Erhängen nur vorgetäuscht wurde. Im Polizeiauto fülle ich den Leichenschauschein mit seinen umfangreichen Fragen aus. Bei der Frage: Natürlicher Tod oder nicht, lasse ich die Antwort offen und vermerke handschriftlich: Entscheidet Kriminalpolizei. Wir fahren weiter.

Es ist 12 Uhr 44

Wann immer ich eine Leichenschau im Falle von Suizid durchzuführen hatte, hat mich der Anblick der Leichname betroffen gemacht. Dieser Protest gegen ein ungerechtes Leben, das ein falsches Spiel aufgezogen hat. Das sie hat träumen lassen, nur, um sie desto unerbittlicher der Selbstvernichtung zuzuführen. Ich erinnere den Fall eines anderen Erhängten; auf einen Zettel hatte er mit Großbuchstaben hingeschrieben:

Grausame Welt, ich klage dich an! Wie pathetisch diese Worte klingen, wie erbärmlich war sein Ende. Die Betrachtung der durch die eigene Hand Getöteten hat mich immer mit der Frage konfrontiert, wie mein eigenes Ende sein wird. Es ist da eine bange Furcht, die wohl jeder Mensch zuweilen in sich spürt, dass alles was wir uns im Leben vorgenommen haben, schief gehen könnte. Visionen zerplatzen, Krankheit befällt uns, Katastrophen ereignen sich. So manches Leben endet im Desaster. Die Konfrontation mit den durch Suizid verstorbenen Toten hatte aber auch einen unerwarteten Effekt. Der eigene Lebenswille sieht sich herausgefordert: ich lebe, will leben, spüre das Leben in mir stärker als zuvor. Aufrechten Hauptes verlasse ich diese Orte des Unglücks.

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