16 Uhr 18, Hausbesuch in Hellersdorf

E s ist nicht zum Aushalten! Vierzehn Kilometer sind wir nun unterwegs und immer noch nicht am Ziel. So eine lange Fahrt macht mich mürbe. Wir fahren am Müggelsee entlang, die untergehende Sonne spiegelt sich im Wasser. Nur für kurze Momente haben wir freien Blick auf den See, dann verdeckt endloser Wald die Sicht. Der Fahrer bemerkt meine Ungeduld: „Noch drei Kilometer, dann haben wir es geschafft.“ Die Zentrale meldet sich. Der Funker hat eine „Überraschung“ für uns. Die Ironie in seine Stimme macht mich argwöhnisch: „Und die wäre?“, frage ich. „Ein Herz D im Asylantenheim in Hellersdorf. Ihr müsst umkehren!“

Umkehren! Das musste ja passieren. Bisher lief alles wie am Schnürchen. Die Anfahrten waren so dicht beieinander. Dann kam der Ausreißer, die Stadtrandsiedlung Rahnsdorf. Ein ellenlanger Weg. Und jetzt? Unverrichteter Dinge umkehren? Nein! Das ist zu viel. Mein Fahrer versucht zu handeln: „Keine fünf Minuten, und wir sind beim Patienten. Können wir nicht… – Nein, ihr könnt nicht! Das D geht vor. – Wie dringend ist denn das D“, frage ich, in der Hoffnung den Funker doch noch umzustimmen. „Doktor der Fall ist dringend. Der Anrufer klang besorgt. Eine junge Bosnierin, 18 Jahre, hat akute Herzprobleme.“ Seufzend bringt der Fahrer den Wagen zum Halt. „So, wir können schreiben, die Adresse bitte…“ Und mit Unmut fahren wir dahin zurück, wo wir hergekommen sind. Während der Zeit der kriegerischen Auseinandersetzungen, zwischen den Völkern des Balkans (1991–1999) gab es in Berlin einen Ansturm von Flüchtlingen, die Asyl beantragten. Unter ihnen viele Bosnier. Damit die Asylanten ein Dach über dem Kopf hatten, wurden leerstehende, ehemalige Schulen oder aufgelassene Ämter zu Asylantenheimen umgerüstet. Es herrschte drangvolle Enge. Conciergen überwachten das Kommen und Gehen und registrierten jeden Besucher.

Der Pförtner kommt mir entgegen gelaufen. „Gut, dass Sie so schnell kommen, das Täubchen liegt im Sterben. – Das Täubchen?!“ Ich bin irritiert: „Rufen sie den Tierschutz. – Nein, nein Doktor, es handelt sich um die junge Frau Ivanovic, eine Bosnierin. Alle nennen sie nur Täubchen. Seit gestern Abend geht es Frau Ivanovic sehr schlecht.“ Wir eilen die breiten Steintreppen zum dritten Stock hoch. Eine Dolmetscherin stößt zu uns. Kinder toben durch das Treppenhaus. Ein Geruch von Essen und Reinigungsmitteln liegt in der Luft. Im Kopf gehe ich schnell die nächsten Schritte durch: Ein Herz D ist entweder hoch akut und lebensbedrohlich, es erfordert schnelles Handeln, oder aber die Schwere der Erkrankung wurde von den Telefonisten falsch eingeschätzt. Der Auftrag bekommt ein D, entpuppt sich aber als blinder Alarm. Was erwartet mich dieses Mal? Die Bosnierin ist noch jung, 18 Jahre alt. Ein Herzinfarkt in diesem Alter ist äußerst selten. Aber was sonst?

Als wir uns dem Zimmer der Kranken nähern, hören wir eigenartig vielstimmiges Brummen und Summen. Wir lauschen einen Moment. Was geht da drinnen vor sich? Der Pförtner klopft an. Ich drücke vorsichtig die Klinke herunter. Was für ein unheimlicher Anblick! Wir glauben in eine Grabkammer einzutreten. Die Fenster sind schwarz verhängt. Der Raum liegt im Dunkeln. Zwei flackernde Kerzen brennen. Auf einem alten durchgesessenen Sofa liegt die Kranke langgestreckt, den Kopf auf das Seitenpolster gebettet. Sie ist leichenblass. Ihre Brust hebt und senkt sich. Ihr Atem geht schwer. Sie seufzt und ächzt. Es scheint, ihre Todesstunde ist gekommen. Um sie herum wie ein schemenhafter Spuk, eine Schar brummender und summender alter Weiber. Sie gehen in wiegender Bewegung durch den Raum. Ihr Gesang schwillt an, ebbt ab, steigert sich aufs Neue. Das müssen Klageweiber sein. Sie haben der Kranken ein nasses Taschentuch über die Stirne gelegt und ihre Bluse geöffnet, um ihr das Atmen zu erleichtern. Die Kranke hat die Hände auf die Brust gepresst. Offenbar hat sie heftige Herzschmerzen. Sie befindet sich in einem qualvollen Zustand, aber sie lebt. Noch ist nicht Zeit für die Totenklage. Die Töne, die die Klageweiber hervorbringen, haben etwas Beruhigendes. Sie sollen den Übergang erleichtern. Wie sie begreifen, dass ich der Arzt bin, huschen sie ins Dunkle und lauern, Lemuren gleich, was geschieht.

Ich betrachte Frau Ivanovic. Sie ist ganz in ihren Schmerz vertieft. Aber… so sieht kein Herzinfarkt aus. Die Szenerie scheint hochdramatisch. Indes der Schein trügt. Ihr ganzes Verhalten hat etwas Theatralisches. Es erinnert mich an etwas. Eine ähnliche Situation. Sie will mir nicht gleich einfallen. Doch dann entsinne ich mich. Es war eine Theateraufführung, vor vielen Jahren. lch habe das Bild der jungen, schönen Melibea vor Augen. Sie litt ebenfalls Qualen. Es sind Liebesqualen, sie verzehrt sich in Sehnsucht nach Calixtus, einem stolzen Spanier, von dem ihr tyrannischer Vater sie fernhält. Ein altes Stück aus der Zeit der Renaissance. Melibea wurde gespielt von einer jungen Schauspielerin. Die ächzte und stöhnte geradeso wie die junge Bosnierin. Wenn ich auf die Kranke schaue, sehe und höre ich das Leiden der liebeskranken Melibea, als wäre es gestern. Eine perfekte Kopie. Jetzt geht alles sehr schnell. „Frau Ivanovic, haben Sie einen Freund?“ Die Dolmetscherin übersetzt. Frau Ivanovic unterbricht ihr Ächzen und Stöhnen und bejaht. „Hattet ihr Streit?“ Sie bejaht wieder. „Dritte Frage: Habt ihr euch im Streit getrennt?“ Sie fängt an zu schluchzen, Rotz und Wasser zu heulen. „Er ist abgehauen!“ Meine Diagnose steht fest: „Frau Ivanovic, Sie werden nicht sterben. Sie sind körperlich gesund. Der Streit gestern, mit dem Freund hat sich auf ihr Herz geschlagen. Es tut weh, aber es hat keinen Schaden erlitten. – Ja, was hab ich dann?“ Sie schaut mich ganz aus der Fassung gebracht an. Der Schnodder läuft ihr aus der Nase. „Frau Ivanovic, Sie haben Liebeskummer.“ Ein Moment angespannter Stille, die Dolmetscherin übersetzt. Plötzlich kippt die Stimmung im Raum. Ein nicht enden wollendes Hexengelächter bricht los, die alten Vetteln haben begriffen, dass sie sich an der Nase haben herumführen lassen. Auch wenn das nicht die Absicht von Frau Ivanovic war. Ihnen wurde klar, dass zu keiner Zeit Todesgefahr bestand. Ja, dass der dramatische Zustand der jungen Frau nichts anderes als die Übersteigerung eines ganz gewöhnlichen Liebeskummers war. Die Anwesenheit der Klageweiber demzufolge überflüssig und lächerlich. Im Nu hat sich das Trauerspiel in eine Farce verwandelt.

Die liebeskranke Bosnierin fühlt sich verhöhnt und ausgelacht. Sie will, dass die alten Frauen den Raum verlassen. Doch die nehmen sich Zeit, wollen den Spaß auskosten. Ihre Weigerung versetzt das junge Mädchen in Rage. Sie faucht die alten Vetteln wütend an. Das belustigt die zahnlosen Hutzelweiber erst recht. Sie tanzen um sie herum, meckern wie Ziegen und recken hochmütig das Kinn. Auf gut bosnische Art und Weise geben sie ihr zu verstehen: Ein zweites Mal, Täubchen, legst du uns nicht herein. Und ab gehen sie im Triumph.

Frau Ivanovic bleibt verwirrt zurück. Sie hat noch nicht wirklich verstanden, was ihr widerfahren ist. Ich spreche ihr Trost zu. „Wie heißen Sie? – Jovana. – Sie sind 18 Jahre alt?“ Sie nickt. „War das dein erster Freund? – Ja. – Jovana, du bist noch so jung, du nimmst die Dinge zu schwer.“ Wieder nickt sie. „Ihr habt euch gestritten! – Ja, furchtbar gestritten. Er hat vor mir ausgespien!“ Sie ist ganz verzweifelt. Ich spreche ihr beruhigend zu: „Natürlich, es war schlimm, böse Worte sind gefallen, doch ihr werdet euch wieder versöhnen.“ Sie schaut mich ungläubig an. „Nur um aufs Neue zu streiten und Euch aufs Neue zu versöhnen. Mal ist die Liebe heiß, mal ist sie kalt. Sie ist ein ewiges auf und ab. Also Kopf hoch Jovana, das Leben geht weiter.“ Jovana schöpft einen tiefen Atemzug. Eine Last fällt von ihr ab. Sie schaut mich an. Über ihr tränenüberströmtes Gesicht huscht ein zaghaftes Lächeln. „Danke, Doktor.“

Es ist 16 Uhr 35.

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